Eine Bewohnerin verweigert seit zwei Tagen das Essen. Die Angehörigen machen sich grosse Sorgen um ihren Gesundheitszustand und möchten sie zwangsernähren. Ihre langjährige Bezugsperson auf der Wohngruppe vermutet einen tieferliegenden Grund hinter dem Verhalten: Die Bewohnerin empfindet keine Freude mehr am Leben.
Florian Menzinger, Leiter Kerngruppe Wagerenhof Ethikforum
Unterschiedliche Perspektiven und Moralvorstellungen von Angehörigen, Mitarbeitenden sowie der Bewohnerin selbst treffen hier aufeinander. Was ist in einer solch schwierigen und komplexen Situation die richtige Entscheidung? Wie soll der Wagerenhof als liebevolles Zuhause reagieren? Unsere Teams, der Krisenstab und die Geschäftsleitung stehen im Alltag immer wieder vor Entscheidungen im Spannungsfeld von Fürsorge, Wahrung der Autonomie, Verantwortung und Gerechtigkeit.
Gerade in der Pandemie mussten herausfordernde Entscheidungen getroffen werden: Dürfen die Bewohnerinnen und Bewohner bei steigenden Fallzahlen übers Wochenende trotzdem zu ihren Angehörigen oder muss zum Schutz aller auf den Besuch verzichtet werden? Auch das Thema «Impfen» löste Spannungen aus.
Um stets ein bestmögliches Handeln zu gewährleisten, hat der Wagerenhof in Zusammenarbeit mit der Stiftung Dialog Ethik spezifisch für den Wagerenhof geltende, ethische Strukturen aufgebaut. Wir sind sehr stolz, dass es bei uns schon seit rund zwei Jahren das Ethik-Forum gibt, welches auch sogenannte «Ethik-Café» durchführt. Das Ethik-Forum nimmt entsprechende Themen auf, führt bei Bedarf Fallbesprechungen nach dem «7-Schritte-Dialog» und ist quasi ein «multidisziplinärer Gesprächsraum»: Konkrete Situationen, Fragen und Entwicklungen werden hier ethisch reflektiert. Ziel ist es, Mitarbeitende und Geschäftsleitung - bzw. die Organisation als Ganzes - bei solchen Fragen und der Entscheidungsfindung zu unterstützen. Um diesen Prozess zu fördern, findet zweimal pro Jahr das sogenannte «Ethik-Café» statt: Mitarbeitende aus unterschiedlichen Berufsgruppen diskutieren hier mit den Experten von Dialog Ethik.
Doch wie funktioniert das Modell konkret und führt so zur bestmöglichen Entscheidungsfindung? Und welche Qualitätskriterien sind der Stiftung dabei wichtig? Das erläutert Institutionsleiterin Dr. Ruth Baumann-Hölzle im Interview.
Frau Hölzle spricht über ethische Spannungsfelder im Bereich Medizin und Pflege und wie das von ihr initiierte Ethikforum des Wagerenhofs hier Unterstützung bieten kann.
Frau Baumann-Hölzle, wie trifft man überhaupt «ethische» Entscheidungen?
Zuerst einmal müssen wir den Unterschied zwischen Moral und Ethik verstehen: Moralvorstellungen sind konkrete Werte und Normen, Grundsätze und Werte von Gruppen oder auch ganzen Gesellschaften. Sie können von Kultur zu Kultur unterschiedlich sein. In einer pluralistischen Gesellschaft wird die Moral oft zum persönlichen Lebensentwurf. Gleichwohl stellt sich auch in einer pluralistischen Gesellschaft und auch in der Weltgemeinschaft die Frage, welche Werte und Normen universal gültig sein sollen. Nach dem zweiten Weltkrieg haben sich der Anspruch auf Menschenwürde und Menschenrechte unabhängig von Fähigkeiten und Eigenschaften mit dem Völkerrecht als plausibel erwiesen. Die Arbeit von Dialog Ethik basiert daher normativ auf dem Anspruch von uns Menschen auf Würde und Menschenrechte und daraus folgend auch auf Zugangs-, Solidar- und Verteilungsgerechtigkeit. Die Ethik als «Wissenschaft der Moral» analysiert die jeweiligen Moralvorstellungen und hat als angewandte Ethik die Aufgabe, diese unterschiedlichen moralischen Vorstellungen zu bewerten, zu einem Konsens zu bringen oder zumindest gemeinsames Entscheiden und Handeln zu ermöglichen. Bei ethischen Entscheidungen bedingt die gemeinsame Suche nach einem Konsens Entscheidungsoffenheit.
Das von Dialog Ethik entwickelte Modell «7-Schritte-Dialog» dient als Instrument zur bestmöglichen ethischen Entscheidungsfindung in schwierigen und komplexen Entscheidungssituationen. Es orientiert sich dabei am fundierten Fachwissen, der beruflichen Erfahrung sowie dem Einbezug verschiedener Wahrnehmungsperspektiven und unterschiedlicher Moralvorstellungen. Im Wagerenhof durfte ich bereits einige moderierte Fallbesprechungen in interdisziplinären und -professionellen Teams nach diesem Modell durchführen.
Was sind typische Themen solcher Fallbesprechungen? Wo entstehen also ethische Dilemmas?
In der Betreuung und Pflege von Menschen mit Beeinträchtigung sind dies Fragen wie zum Beispiel Sonden- oder Zwangsernährung, Umgang mit Suchtmittel, Verhütung und Sexualität, bewusste oder unbewusste Verweigerung der Medikamenteneinnahme, Zahnbehandlungen oder Sterbehilfe. Gerade auch Covid-19 hat viele ethische Fragestellungen und Dilemmasituationen verursacht: Während des Lockdowns und in der ersten Jahreshälfte 2021 versuchten wir uns bei Dialog Ethik möglichst rasch hinsichtlich dieser Wirkungen, respektive Auswirkungen und ethischen Fragestellungen zu orientieren. Mitarbeitende aus Organisationen des Gesundheits- und Sozialwesens informierten uns über ihre Situation in den Spitälern und Heimen. Viele gelangten mit Fragen bezüglich einer schwierigen Einzelentscheidung oder der Prioritätensetzung bei Engpässen an uns.
Vor zwei Jahren haben Sie im Wagerenhof ein sogenanntes Ethik-Forum aufgebaut. Was versprechen Sie sich davon?
Die Kerngruppe des Ethik-Forums besteht aus zwölf Personen unterschiedlicher Hierarchiestufen und Fachrichtungen: Von Ärzten über Mitarbeitende aus den Bereichen Gesundheit und Medizin, Bewohneradministration, Personalwesen, der medizinischen und agogischen Betreuung bis hin zur Landwirtschaft und Küche. Die Mitglieder werden kontinuierlich in ethischer Reflexion und Entscheidungsfindung weitergebildet. Die Geschäftsleitung beauftragt das Ethik-Forum zur Ausarbeitung und/oder ethischen Überprüfung von Grundlagendokumenten im Hinblick auf normative Stimmigkeit – also Leitlinien, Richtlinien etc. Es kann aber auch selbst ethisch relevante Themen der Stiftung aufgreifen und mit Zustimmung der Geschäftsleitung bearbeiten. Das Ethik-Forum organisiert den allgemeinen Dialog über solche Fragestellungen im Wagerenhof – zum Beispiel über das Ethik-Café oder durch das Angebot der Fallbesprechungen. Unser aller Ziel dabei ist die Perspektivenvielfalt: Man muss eine Situation aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten, um eine ethische Entscheidung treffen zu können. Mit dem Modell Ethik-Forum möchten wir Organisationen in diesem Prozess begleiten.
Vielen Dank Frau Baumann-Hölzle für das spannende Interview und Ihre Zeit.
Die erhöhte Human-Ressourcenbindung in der medizinischen, therapeutischen und pflegerischen Betreuung von Menschen mit Behinderung steht im krassen Widerspruch zum akuten Mangel an Betreuungs- und Pflegefachkräften, aber auch zum Mangel an Know-how im Umgang mit betroffenen Menschen.
Vor diesem Hintergrund lancierte die Stiftung Dialog Ethik zusammen mit der «Schweizerischen Stiftung für das cerebral gelähmte Kind», der «Stiftung Wagerenhof – Raum für Menschen mit Beeinträchtigung» und der «Stiftung Wohnraum für jüngere Behinderte (WFJB)» ein praxisorientiertes Projekt mit einem umfassenden Forschungsprojekt. Die Leseprobe nachstehend gibt Einblicke in dieses Projekt und auch in eine Welt, wo Behinderung und Einschränkung die Normalität sind.