img
Fachstrategie, Tagesstruktur

Sich selbst handelnd erleben

Andreas Dürst, Gesamtleiter Stiftung Wagerenhof

16. März 2021

Hans Giger ist vergnügt, sein Lachen ist weit herum zu hören. Ein Blick ins Event-Office erklärt warum: Hans findet das Geräusch des Druckers lustig, den Lena Hölzer betätigt hat. Die gute Stimmung wird noch gesteigert, wenn Lena mit Papier raschelt oder sich mit sonstigen interessanten Materialien beschäftigt. Hans besucht Lena einmal pro Woche in ihrem Büro. Es macht ihm Freude, an ihrer Arbeit teilzuhaben. Er geht aber auch einer eigenen Tätigkeit nach: In den Erlebnisräumen des Wagerenhofs wurden speziell für ihn Arbeitsangebote entwickelt, die ihm nebst Teilhabe einen Entwicklungsprozess ermöglichen.  

«Auch Menschen mit schwerer Beeinträchtigung haben ein Recht auf Bildung. Welche Angebote machen eine Kompetenzerweiterung und persönliche Entwicklung möglich?»

Das Recht auf Bildung

Vor nicht allzu langer Zeit wurden Menschen, die wie Hans mit einer schweren Beeinträchtigung leben, noch einer versorgerischen Pflege überlassen. Es gab kaum agogische Angebote für sie. Heute ist ihr Recht auf Bildung anerkannt und in der UN-Behindertenrechtskonvention festgehalten. Die Möglichkeit zur Kompetenzerweiterung ist zentral für die persönliche Entwicklung, die eine der acht Kerndimensionen unseres Lebensqualitätsmodells nach Prof. Dr. Monika Seifert darstellt. Bereits vor länge­rer Zeit hat sich die Stiftung Wagerenhof zum Ziel gesetzt, auch Men­schen mit schweren und mehrfachen Beein­trächtigungen spezifische Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten zu bieten. Diese Tagesstrukturangebote werden laufend weiterentwickelt. Dabei geht es nicht um Arbeit im Sinne von Leistung und Produktion oder um Bildung als Erwerb von Techniken wie Lesen, Schreiben oder Rechnen. Vielmehr sollen diese Angebote die Möglichkeit bieten, sich selbst handelnd zu erleben, die Umwelt zu erforschen und basale Sinnes­erlebnisse zu erfahren.

Basale Stimulation

Bei den Erlebnisangeboten wird im Wagerenhof unter anderem nach dem me­thodischen Konzept der Basalen Stimula­tion gearbeitet, das vom Sonderpädagogen und Psychologen Andreas Fröhlich für schwerstbeeinträchtigte Kinder entwickelt wurde. Die Grundprinzipien lassen sich auf erwachsene Menschen übertragen, die mit einer Schwerstbehinderung leben und deren Fähigkeit zur Bewegung, Wahrnehmung und Kommunikation beeinträchtigt ist. Basale Stimulation wirkt in diesen Bereichen ausgleichend, vorhandene Ressourcen können erhalten, Fähigkeiten gefördert werden. Für die Pflege und Betreuung bietet sich die Chance, Kontakt zu schaffen, Beziehung zu ermöglichen und im Hier und Jetzt gemeinsame Aktivitäten zu erleben.

Bewegung, Wahrnehmung, Kommunikation

Im Rahmen einer wissenschaftlichen Evaluation wurde die Entwicklung von Klientinnen und Klienten der Wagerenhof-Erlebnisräume über einen Zeitraum von zwölf Monaten beobachtet. In den Bereichen der Wahrnehmung und Bewe­gung und vereinzelt auch in der Kommunikation konnten erfreuliche Kompetenzerweite­rungen festgestellt werden. Auch Hans Giger nahm an der Studie teil. Für ihn, der sich grösstenteils im Roll­stuhl fortbewegt, war es eine bestärkende Erfahrung, sich selbst in Bewe­gung zu erleben. Eines seiner Angebote bestand darin, gehend einen defi­nierten Weg zurückzulegen, indem er sich am Mobiliar oder an der Wand abstützte. Am Anfang benötigte Hans noch viel Hilfe. Mit der Zeit bewältigte er die Strecke jedoch immer selbstsicherer: Er ging schneller, ent­schiedener und verlangte kaum mehr Unterstützung von der Betreuungs­person.

Im Event-Office passiert Basale Stimulation auf ganz natürliche Weise. Hans lauscht Lenas Stimme. Er schiebt sich im Rollstuhl auf Lena zu und signalisiert ihr mit einem glücklichen Lächeln seine Zufriedenheit: Wahrnehmung, Bewegung, Kommunikation.

Angebote mit Wirkung

Eine Evaluation der Erlebnisräume des Wagerenhofs hat gezeigt, wie Menschen mit schwerer Mehrfachbehinderung von fundierten, individuellen Arbeitsangeboten profitieren können. Die Studie wurde von Dr. Stefania Calabrese und Pia Georgi-Tscherry vom Kompetenzzentrum Behinderung und Lebensqualität der Hochschule Luzern durchgeführt.

Immer auf dem Laufenden bleiben? Jetzt zum Wagerenhof-Newsletter anmelden